„Zentrale Randlage. Lesebuch für Städtebewohner“

Auch hier wieder eine böse Rezension. Ich bin ganz erstaunt, wie hart mein Urteil sein kann…

Der Dichter wohnt nicht in der Stadt – die Stadt wohnt im Dichter

In „Zentrale Randlage. Lesebuch für Städtebewohner“ erfährt man mitunter mehr über die Autoren als über die porträtierten Städte

„Ich saß in dem Zimmer wie in einer Sternwarte, um mich herum kreiste die Stadt, die ich nicht sehen konnte.“ Dieser feine Satz aus Barbara Honigmanns „Eine Liebe aus Nichts“ gibt die Richtung gleich mehrerer Texte in dem von Jochen Schimmang herausgegebenen Band vor: Der Schriftsteller bildet den Mittelpunkt, die Stadt ist lediglich Peripherie. Diese Konstellation ist ein Glück, wenn der Autor über einen ein reiches Innenleben verfügt und die Stadt als Impuls dient, um einen großen Geist zu entzünden. Ist der Autor hingegen nicht in der Lage, zwischen künstlerischem Individualismus und pseudo-avantgardistischem Autismus zu unterscheiden, dann ist das Ergebnis literarische Masturbation. Gefährlich nahe an diesem Grenzbereich bewegt sich Peter Handkes Auszug aus „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ (1994), in dem sich der Ich-Erzähler blasiert beklagt, dass die Weltstadt ihn nicht mehr inspiriere: „So angenehm die Metropolensachen (!) weiterhin sein konnten, so nichtssagend waren sie geworden. Sie bedeuteten nichts mehr, (…) hatten aufgehört, mich träumerisch zu stimmen.“ Auch Bodo Kirchoffs Auszug aus „Die Einsamkeit der Haut“ (1981) verblüfft mit ironisch ungebrochenen Banalitäten („Den Tortenboden mag ich gar nicht.“) und Pubertätsprosa, die peinlich berührt („Die Kleine hat so was … so was Begehrenswertes.“).

Es finden sich aber auch wunderbare Texte in diesem Lesebuch, denen es gelingt, Überpersönliches im Persönlichen anschaulich zu machen. Honigmanns „Souterrain, Paris 13ième“ (1991) beschreibt mit hintergründigem Witz die Melancholie des späten Aufbruchs und die archetypische Erfahrung der Fremdheit. Auch in Paul Nizons lyrisch-dichtem Beitrag aus „Das Auge des Kuriers“ (1994) steht der Erzähler im Mittelpunkt, aber anders als bei Handke und Kirchhoff bekommen die Dinge nicht erst Bedeutung durch den Bezug zum Erzähler. Dieses uneitele Erzählen ist weniger beschränkt und verfügt daher auch über wesentlich mehr Gehalt. Höhepunkt der „subjektivistischen“ Stadttexte bildet Wilhelm Genazinos Auszug aus „Die Kassiererinnen“ (1998). Die Haltung, aus der Genazino schreibt, lädt den Text bis zu den einzelnen Buchstaben mit humoristischer Spannung auf. Er vereint auf hohem Niveau den Klang der Erzählstimmen von Kafka, Max Goldt und den Coen-Brüdern.

Neben persönlicher Prosa finden sich allerdings auch essayistische, journalistische, literarisch-experimentelle, negativ-utopistische und andere Texte in der Sammlung. Wie ist diese disparate Auswahl zustande gekommen? Im Vorwort heißt es kokett „Die Auswahl ist – welche Überraschung – subjektiv“. Und willkürlich, möchte man ergänzen, denn mehr Gemeinsamkeiten als deutschsprachige Nachkriegsautorenschaft gibt es nicht. So stößt man eher durch Zufall auf einen Text, der begeistert. Dieses Konzept funktioniert bei Wundertüten, bei Büchern eher nicht.

Lewis Gropp

erschienen in: StadtRevue Juni 2002