Elif Shafak: Sprache als Waffe im Kulturkampf

Sprache als Waffe im Kulturkampf

Die türkische Schriftstellerin Elif Shafak

 

In ihrem jüngsten Roman bündelt Elif Shafak nahezu alle sensiblen Themen türkischer Identität. Im Gespräch gab sie Auskunft über das umkämpfte Erbe der osmanischen Sprachkultur, die Rolle der türkischen Intellektuellen und das geteilte Echo auf ihr neues Buch, das voraussichtlich nächstes Jahr in deutscher Übersetzung erscheinen wird.

 

«Im Namen der Modernisierung wurde unsere Sprache ganz entscheidend reduziert und beschnitten», sagt Elif Shafak. «Um den neuen Staat zu errichten, etablierte die reformistische Elite damals eine neue Kultur – und eine neue Sprache. Wörter, die während der osmanischen Zeit in Gebrauch waren, wurden ausrangiert, und auch die Begriffe, die auf die Sufitraditionen zurückgingen, hat man Schritt für Schritt zensiert.»

Nachdem das Osmanische Reich zerfallen war und Mustafa Kemal 1923 die Türkei gegründet hatte, zählte für ihn vor allem die territoriale Integrität. Der Staatsgründer hatte erkannt, dass postosmanisches Grossmachtdenken illusorisch war und somit die Gefahr politischer Instabilität in sich trug. «Homogenisierung, Türkifizierung und Zentralisierung standen ganz oben auf der politischen Agenda», erklärt Shafak dazu. Für die nach wie vor äusserst einflussreiche kemalistische Elite ist das osmanische Erbe daher bis heute diskreditiert.

AUSBRUCH AUS DER ENGE

Die 1971 geborene Elif Shafak entstammt jedoch einer Generation junger Türken, die einer global orientierten Elite angehören und die nationalistisch geprägte kulturelle Enge der Türkei auffächern wollen. In Strassburg geboren und in Madrid aufgewachsen, teilt Shafak heute ihre Zeit zwischen Istanbul und Tucson auf, wo sie an der University of Arizona Genderstudies und Interkulturalität unterrichtet.

Ein zentraler Faktor im Kampf um die kulturelle Deutungshoheit in der Türkei ist die Sprache. In ihrem jüngsten Roman, «Der Bastard von Istanbul», greift Shafak daher ganz bewusst auf die osmanischen Traditionen zurück. Sie benutzt die von den Modernisten diskreditierten «alten» Wörter, die sich nicht nur aus der Sufikultur, sondern auch aus persischen und arabischen Quellen speisen. «Die osmanische Kultur war wesentlich multilingualer, multikultureller und multireligiöser als diejenige der heutigen Türkei», erklärt Shafak. «Das Osmanische Reich war schliesslich auch ein multiethnisches Empire von enormer Ausdehnung und tief verwurzelter Vielfalt. Und ich bin eine der wenigen Autorinnen, die die Türkifizierung unserer Sprache öffentlich kritisiert». Die Türkei von heute hält Shafak in gewisser Hinsicht für weniger weltoffen und kosmopolitisch als das späte Osmanische Reich: Zu jener Zeit, so Shafak, gab es türkische Schriftstellerinnen, die auf Türkisch, aber auch auf Englisch oder Französisch schrieben. «Und niemand hat sich darüber echauffiert.»

Die Tatsache aber, dass die mit Preisen überhäufte und auch kommerziell erfolgreiche Autorin nun selbst dazu übergegangen ist, ihre Romane auf Englisch zu schreiben, haben ihr viele national Gesinnte als einen Dolchstoss ausgelegt. Wer seine Sprache verrät, verrät auch sein Land – und damit die Nation, so die Schlussfolgerung. Dass sich Shafak dabei auch noch der «Sprache der Imperialisten» bedient, hat die Sache für sie nicht leichter gemacht: Dafür wird sie auch von den Linken attackiert.

INTELLEKTUELLE ALS MACHTFAKTOR

Ob der gegenwärtige nationalistische «Backlash» in der Türkei nicht zuletzt auch als Reaktion auf ungeduldige und überzogene Forderungen aus Brüssel zu deuten ist, wie der deutsch-türkische Politiker Cem Özdemir argumentiert, sei dahingestellt. Fest steht, dass die Ultranationalisten in der Türkei derzeit äusserst lautstark und aggressiv auftreten. Elif Shafak hat aber immer wieder betont, dass diese Fraktion nur eine äusserst kleine Minderheit darstellt. Im Gegensatz zu den liberalen Intellektuellen seien sie jedoch wesentlich besser vernetzt. «Die liberalen Intellektuellen sind nicht wirklich in der Lage, ihre Kräfte effektiv zu bündeln.»

Nichtsdestoweniger sind liberale wie auch konservative Intellektuelle in der Türkei ein Machtfaktor – sie bestimmen die öffentlichen Diskurse. Die moderne Türkei bezieht sich in vielerlei Hinsicht auf französisch-republikanische Traditionen, und wie in Frankreich haben Eliten – also Kulturschaffende und Intellektuelle – in der Türkei einen hohen Stellenwert für die nationalen Debatten. «In einem Land wie der Türkei ist ein Roman in allererster Linie ein öffentliches Statement – und ein Romanautor ist in jeder Hinsicht mehr als einfach nur ein Romanautor», erklärt Shafak. «In den Interviews, die ich in der Türkei gebe, geht es fast immer nur um Politik und nur sehr selten um Ästhetik oder Kunst. In diesem Land ist ein Schriftsteller immer auch eine Figur des öffentlichen Lebens.»

So wird man also auch als Feingeist in die – mit harten Bandagen umkämpften – öffentlichen Diskussionen um nationale Befindlichkeit und Identität verwickelt. Wie schwer es Intellektuelle haben, sich trotz ihrem Stellenwert durchzusetzen und Gehör zu verschaffen, ist in den letzten Wochen und Monaten deutlich geworden; Elif Shafak selbst stand erst kürzlich wegen «Herabwürdigung des Türkentums» vor Gericht, wurde jedoch aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Dennoch zeigt gerade auch die Rezeption von Elif Shafaks jüngstem Roman, wie sehr sich die Türkei in den letzten Jahren gewandelt und intellektuell geöffnet hat. «Auch wenn der Roman für gewisse Personen und Gruppen schwer verdaulich war, so möchte ich doch betonen, dass die Reaktionen von den Medien und der Gesellschaft insgesamt sehr positiv waren», merkt Shafak dazu an.

«Der Bastard von Istanbul» ist innerhalb kürzester Zeit zu einem Bestseller avanciert, von dem binnen fünf Monaten – auf einem vergleichsweise sehr kleinen Buchmarkt – weit mehr als 50 000 Exemplare verkauft wurden. «Das Buch ging frei und unzensiert durch den Handel und wurde weitläufig besprochen», betont Shafak. «Ich habe zahlreiche Lesungen und Diskussionen im ganzen Land halten können – von Izmir bis Diyarbakir. Dabei habe ich von den unterschiedlichsten Leuten Rückmeldung erhalten: von Linken, von Kurden, von Hausfrauen, von Mystikern, von Alewiten bis hin zu Kopftuch tragenden Studentinnen – und die Reaktionen waren sehr, sehr positiv.»

IM TABUBEREICH

Die Tatsache, dass «Der Bastard von Istanbul», der wohl im März 2007 auf Deutsch erscheinen wird, ein so grosses Publikum gefunden hat und tatsächlich auch von den Zensoren durchgewinkt wurde, ist umso bemerkenswerter, als sich Shafak damit auf ein dicht vermintes Terrain vorgewagt hat, das in der türkischen Selbstwahrnehmung noch weitgehend als No-go-Zone gilt: Das Buch handelt von den Vertreibungen und Massakern an den Armeniern. Der Bastard der Geschichte ist ein armenischer Knabe, der während der Pogrome von seiner eigenen Familie getrennt und dann von einer türkischen Familie aufgenommen wird. Von dieser Familie behütet, tritt der Knabe zum Islam über und führt dann das Leben eines Türken. «Dieses Thema taucht hier und da am Rande auf, aber viele Jahrzehnte lang hat die türkische Literatur dazu geschwiegen», bilanziert Shafak.

Der britische «Guardian» geht indessen davon aus, dass der Roman der überhaupt erste ist, der sich explizit mit diesem düsteren Kapitel der türkischen Republik auseinandersetzt. In diesem Fall wäre Shafaks «Bastard von Istanbul» wohl eine Art Mondlandung der türkischen Literaturgeschichte. Vielleicht ist jetzt aber tatsächlich in der Türkei der Zeitpunkt für eine Diskussion über dieses historische Tabu gekommen. Denn, so merkt Shafak an: «Es ist schon interessant: Die meisten hate mails habe ich von Türken bekommen, die im Ausland leben.»

Lewis Gropp lebt als freier Publizist in Köln. Er ist Mitglied der Redaktion des Internet-Portals Qantara, das den Dialog zwischen westlicher und islamischer Welt fördern will.

Hier der Link zu dem Original-Artikel in der NZZ…